Von Handtuchhaltern und strengen Blicken
Von Claudia Siefen (Schnitt)
31.07.2010
Seit letztem Jahr hat sich einiges getan in Prizren, am Fluß Lomebardhi im südlichen Kosovo gelegen. Zumindest das Stadtzentrum schien im letzten Jahr immer noch erstaunt, daß das Internationale Filmfestival »dokufest« auch tatsächlich immer mehr internationale Gäste anlockt. Zur diesjährigen neunten Ausgabe und im Hinblick auf das nächstjährige Jubiläum gibt es nun in der Innenstadt ein neues Hotel gehobenen Standards, Elektrizität und Internet; nur der sonnige Frühstücksraum muß noch ausgebaut werden, die fehlenden Handtuchhalter in allen Zimmer montiert werden und bis dahin müßte allmorgendlich die Kaffeemaschine in Betrieb genommen werden. Aber im Hier und Jetzt muß man sich also des Vormittags die Sonnenbrille auf die Nase klemmen und hinaus auf die gepflasterten Strassen treten, um bei Zigaretten und Espresso andere Festivalbesucher zu treffen oder, wie jetzt im August, die Einwohner beim täglichen Flanieren zu beobachten und sich selbst natürlich auch beobachten zu lassen. Verwunderte Blicke kann man im muslimisch geprägten Teil der Stadt schon noch ernten, wenn man »als Frau« allein im Café sitzt, Zeitung liest und dabei raucht. Da heißt es: Katalog und Programmheft zur Hand genommen und von einem Kino zum nächsten schlendern. Bespielt werden in diesem Jahr fünf Kinos, wobei der elektronischen Wiedergabe wieder einmal der Vorzug gegeben wird. Aber ist ein Ort wie dieser, dessen Straßen immer noch hier und da von zerbombten Häusern geprägt sind, wirklich auch der richtige Ort, sich über das fehlende Zelluloid aufzuregen? Man muß diese Frage immer noch mit einem »Nein« beantworten, zumal hier die Freude, eine Woche internationale Gäste und deren filmische Arbeiten zu genießen, immer noch im Vordergrund steht. Ein Treffpunkt von Filmfreunden und solche, die es werden sollen: zum Knattern der Projektoren wird es schon irgendwann einmal kommen oder es ist einfach der falsche Ansatz, hier an diese Thematik herangehen zu wollen.
Wie im letzten Jahr gibt es fünf Wettbewerbs-Sektionen und nun zehn Special-Programme. In allen Sektionen zeigt sich anhand der Programmierung der selbstauferlegte Bildungsauftrag, um die ferne Welt mit ihren Themen nach Prizren zu bringen, aber auch immer wieder der Wille zur Kunst, Filme zu zeigen, deren Bildsprache und Thematik ein anderes, experimentelles Kino auf die Leinwand zaubern. Diese werden mittlerweile erfreulicherweise nicht mehr so ungeduldig goutiert wie noch im letzten Jahr. Eine Zelimir Zilnik Retrospektive war erfreulich, deren Genuß wurde aber durch eine fehlende englischsprachige Untertitelung gemildert. Zu sehen war eine kleine Auswahl an Spielfilmen wie Brooklyn – Gusinje, der die Beziehungen zwischen Jung und Alt im Bergdorf Gusinje an der jugoslavisch-albanischen Grenze thematisiert, mitsamt auswanderungsfreudigen Männern, einem alten Restaurantbesitzer und zwei jungen Frauen: die eine selbstbewußt, vorlaut und mit einer ordentlichen Portion Selbstständigkeit versehen, die andere etwas träge und dümmlich, dafür aber mit einer grandiosen Gesangsstimme, wilder Haarpracht und dem festen Glauben an ein besseres Leben in den USA ausgestattet. Old School Of Kapitalism zeigt die Arbeitsweise, für die Zilnik mittlerweile gleichermaßen geliebt oder gehasst wird: Man nehme ein Thema und mische Dokumentarisches und Spielfilmartiges, bis man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden kann. Die »realen« Personen der Dokumentarfilmszenen »spielen« sich nachher selbst, sprechen und agieren so, wie der Regisseur es wünscht, obwohl ein Dokumentarfilm ja auch schon nichts anderes macht, nur gerne etwas anderes vorgaukeln möchte. Nun, ein Fabrikbesitzer wird hier von seinen Angestellten festgenommen und die Dinge nehmen ihren Lauf. Ein Kurzfilmprogramm von sieben Filmen rundet das Ganze ab: Black Film, in dem Zilnik eine Gruppe von Obdachlosen mit nach Hause nimmt und die Kamera sein Zeuge ist. June Turmoil begibt sich mitten die Studentendemonstrationen in Belgrad im Jahre 1969. Ungarn, Slowenen, Italiener und Kroaten werden mit der eben erwähnten »Masche« des Regisseurs in Fortress Euope zusammengebracht. Die unbändige Energie des Regisseurs konnte man in einer Diskussionsrunde am eigenen Leib erfahren, durchaus kompetent besetzt, artete diese nach einer etwa 15minütigen Einleitung in einen fast 35minütigen, kraftvoll-humorigen Monolog seitens Zilnik. Dem Meister sei es verziehen.
Mit »8 Shorts – This Is Not A Film By Khavn« brachte das Festival einen international umtriebigen und nicht minder anerkannten Künstler nach Prizren. Regisseur, Musiker, Lyriker: der Philippine Khavn De La Cruz gilt als »Vater des digitalen philippinischen Kinos« und kann die Bezeichnung mittlerweile wohl selbst nicht mehr hören. Aber griffig und stimmig bringt sie es auf den Punkt. Und wer ihn einmal in persona erlebt hat, sei es bei seinen Filmvorführungen, Konzerten (eine wilde Mischung aus Piano-Punk und Pop, hier und da mit ekstatischen Gesangseinlagen seinerseits) und auch Lesungen (den Stil seiner Filme auf dem Papier weiterführend: philippinische Geschichte, vermengt mit Post-Punk-Rock aus tiefstem Herzen), ist geneigt, diesem Mann innerhalb seiner Arbeit die vielgescholtene »message« zu zugestehen. Wer den mittlerweile beträchtlichen Umfang seines Werkes kennt, muß bei der Auswahl von acht Filmen schmunzeln, einen hübschen Einstieg bildet sie trotzdem, wenn man denn noch nicht Khavn-süchtig ist: Adarna & The Memory Of Crystal, An Open Letter To All The Terrorists Of The World (immer noch einer meiner absoluten Favoriten: In poetischen Worten wird eine höfliche Aufforderung an Terroristen vorgelesen, mit der freundlichen Bitte, doch einmal »in meinem Land vorbeizuschauen, bei uns läuft so einiges schief«, der Briefschreiber geht des nächtens auf einem öffentlichen Parkplatz auf und ab und trinkt Tee), Literature, Rugby Boyz (eine Punk-Kaskade, Armut zeigend, Lösungsmittel zur Benebelung des Verstandes und Zärtlichkeit, Traurigkeit, Freundschaft, Verlorenheit – eigentlich also doch alles ganz normal), Barong Brothers (was so passiert, oder auch nicht, wenn ein paar philippinische Jungs traditionell gewandet durch die Innenstadt von Manila laufen, eben im »Barong«), Blackworms, The Drowning Sea und schließlich Ultimo, eine Hommage an Jose Rizal.
Das Programm »Made In Finland« versuchte einen aktuellen Querschnitt finnischer Filme der letzten Jahre. Sei es Komödien wie Freetime Machos von Mika Ronkainen, einem wahren Kassenschlager in Finnland, oder dem schwerverdaulichen und doch ärgerlichen Portrait von Visa Koiso-Kanttila Father To Son. Der Regisseur hat Vater und Großvater vor die Kamera geholt, um Erziehungsfehler zu thematisieren. Er selbst schlottert als Vater vor sich hin, dieselben zu begehen, natürlich unbeabsichtigt. Wer mit vierzig Jahren also immer noch gegen die eigenen Eltern wütet und sich eine vielbeachtete Plattform wie das Kino auswählt, um auf höchstem Niveau zu jammern, dem sollte man vielleicht mißtrauen oder man sollte sich zumindest wundern, aber dankbar für dergleiche Informationen sein. The Living Room Of The Nation von Jukka Kärkäinen pendelt sich bei der finnischen Arbeiterschicht ein und nistet seine Kamera in den Wohnzimmern seiner Protagonisten ein, läßt sie reden und reden, weinen und saufen und verzweifeln. Liebe ist kein Halt und heterosexuelle Beziehungen sind eh der Untergang eines jeden finnischen Mannes! Ist dies so? Und ist dieser Film nun eine Doku oder ein Spielfilm? Beides bleibt spannenderweise offen.
Ein grandioser Kurzfilm, der einen dazu bringt, das dazugehörige Filmplakat nach dem Festival zu »erbetteln«, beschäftigt sich mit der Stadtplanung von Helsinki, die Wandlung einer Stadtlandschaft, Industrieschlacht mit grafischen Elementen von Pinja Partanen, Jasmiini Ottelin und Elli Vuorinen: Hansaari A. Kraftvoll. Grandios. Kino.
Davon gab es erfreulicherweise noch mehr. Ein paar Favoriten:
1717 kilometers of summer 2009 von Jurij Meden. Eine Autoreise. Erinnerungssplitter, visualisierte Gedanken, Freunde, Lachen, die Sonne, der Himmel, die unendliche Straße, atemberaubendes Tempo, das Ankommen. Wie erinnert man sich? Bilder wurden zu Gedankenfetzen, gefilmte Bilder formieren diese Erinnerungen wieder zu Bildern und die sehen dann wieder wie Gedanken aus. Poetisch, mit einer Faust im Nacken in einem atemberaubenden Tempo.
The world according to Ion B. von Alexander Nanau. Eine Dokumentation, die zwar auf Nummer sicher geht, aber Dank ihrer Hauptfigur tatsächlich fesselnd ist: Die Collagen von Ion Barladeanu sind mittlerweile weltweit in Galerien und auf Messen vertreten, die sich mit osteuropäischer Kunst beschäftigen. Aber vor zwei Jahren sah sein Leben noch ganz anders aus: arm, alkoholkrank, obdachlos in einem Hinterhof lebend, die Habseligkeiten in Kartons verpackt und gelagert. Bis durch Zufall seine kleinen Collagen aus mehreren Jahrzehnten buchstäblich ans Tageslicht kamen.
The mouth of the wolf von Pietro Marcello zeigt, daß manche Dokumentarfilme tatsächlich auf die große Leinwand gehören. Optisch eine gewaltige Komposition in Montage und Farbe. Genua, der »Wolf«, hat über zwanzig Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht, schildert seine Innenwelt, den Geruch seiner Heimat und unerwartet auch seine große Liebe. Ein heterosexueller Macho, optisch eine Hardcore-Variante von Tom Selleck, und seine Beziehung zu einem Transsexuellen und wie diese Liebe, das Vertrauen, der Schutz und die Zärtlichkeit und das gegenseitige Verständnis füreinander alle Stürme und Bedrohungen bis heute überlebt hat. Fulminant.
The Shutdown von Adam Stafford schildert ein Stimmungsbild und die Erfahrung, in der unmittelbaren Nähe einer schwefelverarbeitenden Fabrikanlage aufzuwachsen. Die fast schon poetischen Bilder stehen in einem enormen Gegensatz zur Erzählung, als der Vater eines Tages nach einer Explosion zunächst nicht von der Arbeit nach Hause kam. – Ist Dad tot? - Nein. – Ist er gelähmt? – Nein. (Hatte es da nicht noch Zeit bis nach den »Flintstones«?) Eine Parabel auf den jugendlichen Überlebenswillen.
Girl Like Me von Rowland Jobson wagt den Spagat innerhalb eines viel diskutierten Themas: eine Dreizehnjährige tauscht Textnachrichten mit einem Gleichaltrigen. Man beschließt, sich zu treffen und natürlich entpuppt sich der nette Junge als verklemmter Vierziger. Beide sind aber auch einsam, schüchtern, verstört und ungemein sympathisch. Wird man sich doch annähern? Die erste Enttäuschung ist überwunden, aber gibt es da nicht noch etwas anderes als Sex? Das Ende bleibt offen, an den Film kann man herangehen, wie man mag. Er hinterläßt einen gewissen Optimismus aber auch das Bewußtsein, daß solche Geschichten schon zu oft völlig anders verlaufen sind. Mutig und dramaturgisch gekonnt.
Kleine Jungs und kleine Mädchen – wie man sie sieht in der Gesellschaft und mit welchen Problemen sie aufgrund ihres Geschlechtes schon zu kämpfen haben und wie sie ihre Probleme lösen. Da haben wir zum Beispiel Rita von Antonio Piazza und Fabio Grassadonia. Die kleine blinde Rita muß die Fürsorglichkeit ihrer Mutter ertragen, als diese für einen Einkauf das Haus verläßt. Doch Rita scheint nicht allein im Haus zu sein. Zwei Einbrecher haben die Chance genutzt und Rita nutzt nun die Chance, endlich einmal unbeaufsichtigt das Haus zu verlassen und ans Meer zu wandern und sich mutig in das Wasser zu begeben, um endlich schwimmen zu lernen. Oder waren die beiden Einbrecher nur eine Fantasie? _Six Dollar Fifty Man_von Mark Albiston und Louis Sutherland begibt sich zurück in die 1970er Jahre. Ein kleiner Junge lebt in seiner Traumwelt und hat mit älteren Schulkameraden zu kämpfen, da er sich von ihnen nicht schikanieren lassen will. Die Verwechslung eines Zettels in der Hosentasche (ein kleiner Liebesbrief und eine Notiz für den Direktor der Schule) bringt da unerwartet Hilfe.
Wie man die Geschichte eines Landes anhand eines nationalen Produktes kinotauglich schildern kann, zeigt Jaffa – The Orange's Clockwork von Eyal Sivan. Genau, es geht um die Jaffa Orangen. Geschichte, Politik, Kunst. Die hübsche Orange: Da steckt mehr drin, als man zunächst ahnt. Eine großartige Dokumentation, der man großes Kino wünscht und hoffentlich kein Ende als Schulungsmaterial. Aber die ungewöhnliche Kameraarbeit wird dies hoffentlich zu verhindern wissen.
Und »dokufest«? Nächstes Jahr wieder. Wieder der strenge Blick in den Reisepaß, wohl immer noch zerbombte Häuser. Aber hoffentlich mit neuen Handtuchhaltern im Hotel.